Ieva Berzina-Hersel
Ich habe das Gefühl auf Vollbremse zu stehen, ich habe Existenzangst, ich habe meine Arbeit verloren, ich fühle mich isoliert, meine Kontakte zu anderen sind weggefallen oder total eingeschränkt, ich habe Probleme mit meinem Mann zu Hause, die familiären Verhältnisse sind sehr angespannt, ich habe Angst weitere Kinder zu bekommen, ich kann nicht ausgehen, ich kann nur unter bestimmten Bedingungen und mit großem Aufwand mal ins Kino und Theater gehen. Ich kann keinen Urlaub machen, ich kann nicht Wandern gehen, ich kann nicht mal ausschlafen. Ich möchte mal ein normales Leben haben!
Das klingt alles nach Corona-Krise, oder?
ABER, NEIN, diesen Zustand habe ich seit der Geburt meines mehrfach behinderten Sohnes vor 10 Jahren und ich versuche mein Leben trotzdem zu meistern.
Mein Sohn leidet an dem Gomez-Lopez-Hernandez-Syndrom mit Hydrozephalus, Epilepsie und Taubheit. Er ist in allen alltäglichen Versorgungsbereichen auf komplette Unterstützung angewiesen und braucht viel Betreuung, Pflege und Beaufsichtigung.
Natürlich gibt es auch andere Momente und obwohl mein Sohn uns viel Sorgen macht, bereichert er unser Leben enorm. Er ist ein stolzer großer Bruder und freut sich sehr, seinen kleinen Bruder zu umarmen, mit ihm zusammen zu lachen.
Leider ist es sehr begrenzt möglich ein „normales Leben“ unter vorgenannten Umständen zu führen. Dank der verschiedenen Entlastungsangebote durch Leistungen der Jugendämter, der Kranken- und der Pflegekassen war das bis jetzt möglich „durchzuhalten“.
Leider können wir jedoch die unterstützenden Leistungen nicht immer in Anspruch nehmen, weil es in Berlin keine entsprechenden Angebote für Kinder ohne lebenslimitierende Erkrankungen gibt. Zum Beispiel, die Kurzzeitpflege für unsere zu pflegenden Kinder. Familien, die chronisch kranke und pflegebedürftige Kinder zu Hause pflegen, betreuen und fördern, leisten oft körperliche und psychische Schwerstarbeit.
Um die Eltern vorübergehend zu entlasten, habe ich mich auf den Weg gemacht und mit anderen betroffenen Familien und Interessierten den gemeinnützigen Verein einePause gegründet. Zusammen möchten wir ein „einePause-Haus“ – eine heilpädagogische Kurzzeitwohneinrichtung für chronisch kranke und pflegebedürftige Kinder und junge Menschen in Berlin entwickeln und aufbauen.
Ich bin sehr dankbar für alle, die mich hierbei motiviert und unterstützt haben.
Kathrin Krenz
Im Januar war ich mit meinem Sohn 3 Wochen zur Mutter-Kind-Kur im Schwarzwald. Zum zweiten Mal schon. Das erste Mal, es ist noch gar nicht so lange her, war 2,5 Jahre davor.
Was macht man auf so einer Kur? Man geht zum Sport, zur Ernährungsberatung, zu Gesprächsgruppen und Einzelgesprächen, lernt Atem- und Entspannungstechniken, übt sich in Achtsamkeit. Auch Massagen, Fangopackungen und Physiotherapie sind im Angebot. Unter der Woche ist das Kind während des Tages betreut.
Hört sich gut an, meinen Sie? Finde ich auch.
Aber wie wäre es, wenn ich im Alltag für alle diese Dinge Zeit hätte. Also nicht alle aufs Mal, denn ich bin ja berufstätig. Aber wenn ich immer wieder einmal, in regelmäßigen Abständen spontan über meine Zeit bestimmen könnte und etwas für mich tun, egal ob Sport, Kultur, Gespräche,Treffen mit Freunden.
Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist gut, dass es dieses Eltern-Kind-Kuren gibt und Familien, Eltern, die eine Pause und Erholung vom Alltag brauchen die Möglichkeit haben, eine Auszeit vom Alltag zu bekommen. Aber wie wäre es denn, ein Leben zu leben, in dem man nicht das beklemmende Gefühl wegatmen muss, das entsteht, weil man kaum Möglichkeiten hat, selber über seinen Alltag zu bestimmen. Weil sich nicht die komplette Gestaltung des Alltags nach den Bedürfnissen des Kindes richtet. Und sich immer richten wird, solange es in der Familie lebt. Weil der intensive Betreuungsaufwand, den alle Eltern von kleinen Kindern kennen, sich nicht „verwächst“. Weil man über seine Freizeitgestaltung von Zeit zu Zeit selber bestimmen könnte. Bräuchte ich dann Kurse zur Progressiven Muskelentspannung, müsste ich lernen im Bodyscan meine Aufmerksamkeit und meinen Atem in meinen Ellenbogen wandern zu lassen?
Unser Sohn hat einen Gendefekt, das Dup15q-Syndrom. Er ist Autist, hat eine geistige Behinderung und Entwicklungsverzögerung, er hat eine geringere Körperspannung als andere Kinder. Manche Meilensteine der kindlichen Entwicklung hat er erreicht, aber mit großer Verzögerung. Er spricht und läuft, klettert und schaukelt gerne und springt gerne Trampolin. Manchmal ist er unruhig, rennt herum und kann sich auf nichts konzentrieren. Im nächsten Moment ist er sehr fokussiert und kann eine Wespe oder Biene mit der bloßen Hand fangen, weil ihn deren Gesumme fasziniert. Er ist ein aktives Kind, liebt Wasser und Musik, geht aber sehr vehement seinen eigenen Interessen nach. Im Zweifelsfall auch auf eigene Faust. Und er hat kein Gefahrenbewusstsein. Er braucht also immer jemanden an seiner Seite, der ihn begleitet, Grenzen setzt, ihm hilft, unterstützt.
Max ist ein glückliches Kind mit einer sehr robusten Gesundheit. Und wir lieben ihn sehr. Er bereichert unser Leben, hilft uns zu entschleunigen und lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Dinge, die uns wirklich wichtig sind.
Trotzdem brauchen wir Eltern von Zeit zu Zeit eine Pause. Damit wir eigenen Interessen nachgehen können, uns um uns selber kümmern können, um unsere Batterien aufzuladen und gesund zu bleiben.
Damit uns das gelingt müssen wir wissen, dass es unserem Sohn in der Zeit, in der er nicht bei uns ist gut geht. Er braucht dann einen Ort, der ihm vertraut ist, dessen Routinen und Abläufe er kennt, wo man ihn kennt und seine Bedürfnisse versteht. Einen Ort also, an dem er sich sicher und geborgen fühlt.
Einen solcher Ort könnte eine Wohneinrichtung zur heilpädagogischen Kurzzeitpflege, ein Pause-Haus sein. Aber diesen Ort gibt es hier im Moment nicht.
Ieva hatte ich bereits bei unserer ersten Kur im Schwarzwald kennen gelernt. Sie hatte mir von ihrem Verein erzählt und ich habe bei einem Selbsthilfegruppe-Treffen auch Annika und ihre Tochter kennen gelernt. Vor kurzem wurde deutlich, dass sie Unterstützung brauchen, um ihre wichtige Arbeit fortsetzen zu können. Daher freue ich mich jetzt darauf, einen kleinen Beitrag leisten zu können und Teil des Pause-Haus-Projektes zu sein.
Ada Boué
Mit der Geburt meines zweiten Kindes betrat ich ein Paralleluniversum und mein bisheriges Leben hörte mit einem Schlag auf. Mio wurde mit einer schweren Fehlbildung des Darms geboren und war in den ersten zwei Jahren auf intensivmedizinische Pflege angewiesen. Aufgrund des Pflegenotstands gab es außer mir niemanden, der ihn pflegte.
Vor allem die Isolation und die Hilflosigkeit, die mein alltäglicher Begleiter wurden, belasteten mich besonders in dieser Zeit. Ich konnte zeitweise wochenlang das Haus nicht verlassen und es gab niemanden, der mich hätte entlasten können. Diese Erfahrungen wiegen schwer auf den Schultern vieler pflegender Eltern und Unterstützungsmöglichkeiten gibt es immer noch zu wenig.
Über Zufall kam ich zur Selbsthilfegruppe von einePause e.V. und hatte das erste Mal seit der Geburt das Gefühl, nichts erklären zu müssen. Alle Menschen, die mich dort umgaben, hatten dasselbe erlebt. Es hat mir das Gefühl gegeben, gesehen zu werden. Ich konnte Kraft schöpfen aus den Gesprächen mit anderen Eltern.
Dort habe ich auch zum ersten Mal von der Idee gehört, das „einePause-Haus“ zu errichten und war gleich interessiert. Es war genau das, was ich und so viele andere Eltern brauchten: Eine Pause. Eine Pause von dem belastenden und ermüdenden Alltag, eine Pause, um durchzuatmen und zu durchzuschlafen. Eine Pause, um Kraft zu tanken und sich selbst wieder zu spüren. Und dabei das Kind in Sicherheit zu wissen, denn nur dann ist es wirklich möglich.
Wir brauchen diesen Ort, an dem sich unsere Kinder wohl fühlen und gut versorgt sind und wir als Eltern als wichtigste Ressource wahrgenommen werden. Ich bin glücklich darüber nun Teil des einePause-Teams zu sein und zuversichtlich, dass wir diesen Ort zusammen schaffen können.
Annika Eysel
Mit der Geburt meiner zweiten Tochter Lena, habe ich unbekannte Landschaften betreten. Sie hat ein sehr seltenes Mosaiksyndrom, ein kleines Genärmchen zu viel und schon ist alles anders. Wie vielfältig Menschen sein können und was ein Leben ausmacht und was uns eigentlich berechtigt zu urteilen, welches Leben wie erfüllt zu bezeichnen ist, all das hat unser Leben und das der ganzen Familie besonders bereichert. Lena hat mir das Lieben gelehrt. Ich bin ihr dafür sehr dankbar.
Es gibt aber auch die andere Seite. Die belastende, zehrende. Als die beiden jüngeren Geschwisterkinder selbständiger wurden, keimten auch in mir Wünsche nach mehr Freiraum. Lena war inzwischen 12 Jahre alt und ich war weiterhin unausweichlich in die tägliche Pflege eingebunden.
Ich stellte mir vor, dass ich, wenn wenigstens ein Wochenende im Monat nicht die Pflege und Fürsorge meinen Alltag bestimmte, wenn ich spontane Aktivitäten mit den anderen Kindern unternehmen könnte, meine Zeit freier einteilen könnte, dann auch wieder mehr Freude haben würde, mich um Lena zu kümmern.
Ich wünschte Lena einen Ort außerhalb ihres Elternhauses, in dem sie sich gerne aufhält, in dem sie Beziehungen zu anderen Kindern und Erwachsenen aufbauen kann, Erfahrungen außerhalb ihres Elternhauses machen kann, gefördert und versorgt wird. Und ich somit eine Pause hätte.
Zu meinem Entsetzten gab und gibt es in Berlin einen solchen Ort nicht. Wie kann das sein? Habe nur ich diese Sehnsucht? Wie geht es all den anderen pflegenden Eltern? Ich habe an Förderschulen eine Umfrage gestartet und habe viele Gespräche mit anderen pflegenden Eltern geführt.
Eigentlich wollte ich ja nur eine kleine Pause von der alltäglichen Belastung, aber nun hatte ich die Erkenntnis gewonnen, dass es sehr vielen Berliner Familien genauso geht und sie alle dringend ab und an eine Pause brauchen, damit sie neu Kraft schöpfen können, und sie das aber nur können, wenn sie wissen dass es ihren Kindern gut geht.
Im Frühling 2019 lernte ich Ieva kennen und zusammen haben wir uns stark genug gefühlt, diese Lücke zu füllen und ein Kurzzeitwohnhaus in Berlin zu etablieren. Fünf Jahre lang haben wir sehr viel Zeit und Kraft investiert, sind vielen tollen Menschen begegnet, wurden ermutigt, gefördert und unterstützt und haben viel bewegt. Dann ist meine Extra-Kraft versiegt, ich habe eine bezahlte Arbeit in einer Beratungsstelle gefunden und habe mich im April 2024 aus dem ehrenamtlichen Engagement des einePause e.V.s verabschiedet. Natürlich bleibe ich dem Tun und Wohl des Vereins und dem Ziel der Initiative verbunden und wünsche Ieva und Berlin alsbaldigen Erfolg.